Wege zu einer kolonialkritischen Stadt. Wieso setzen wir uns mit dem Kolonialismus auseinander?

Das Göttinger Stadtlabor setzt sich mit dem Thema auseinander, wie eine kolonialkritische Stadt aussehen könnte und welche Wege dahin möglich wären. Wir wollen kurz zusammenfassen, warum dies wichtig ist.

Kolonialismus wird als eine territoriale „Fremdherrschaft“ beschrieben, in der die Kolonisatoren u.a. von rassistischen Vorstellungen eines Entwicklungsdenkens geprägt sind. Der Begriff wird von dem weiter gefassten Imperialismus unterschieden, „der auch Formen der informellen Steuerung ohne Ansprüche auf Gebietsherrschaft miteinschließt“.[i]

Kolonialismus ist ein gewaltvolles multidimensionales Herrschaftsverhältnis, welches alle gesellschaftlichen Sphären durchdringt: Von der Ökonomie bis in die Politik und Kultur.

Der europäische Kolonialismus prägte seit Ende des 15. Jahrhunderts die globalen Strukturen und etablierte ein ungleiches System zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. In den 1960er Jahren begann eine große Dekolonialisierungswelle, die in vielen Regionen Afrikas und Asiens zu einem Ende der formellen Kolonialherrschaft führte. Nach diesem Ende wurden allerdings neue Formen der Ungleichheit durchgesetzt.[ii]

Koloniale Kontinuitäten zeigen sich heute sehr deutlich in den globalen ökonomischen Verhältnissen.

In den gegenwärtigen Debatten zum Thema Kolonialismus wird dies wenig thematisiert. Allerdings, so macht der Historiker Eric Hobsbawm deutlich, hatten Kolonialismus und Imperialismus „bedeutsame wirtschaftliche Ursachen“.[iii]

Im Kolonialismus wurde ein ungleiches Verhältnis etabliert, was es den Kolonisatoren ermöglichte, bspw. günstige Rohstoffe und neue Absatzmärkte zu erschließen. Nach der Dekolonisation bestanden ungleiche Beziehungen in der Weltwirtschaft fort, die in verschiedener Art und Weise auch unser heutiges Weltwirtschaftssystem prägen.[iv]

Weiterhin war der Kolonialismus geprägt durch „biologisch-rassistische sowie christlich-kulturelle Überlegenheitsvorstellungen, die bis in die Gegenwart – oft auch unhinterfragt – allgegenwärtig sind“.[v] Bis heute sind Perspektiven auf Afrika bestimmt durch „koloniale und paternalistische Stereotype“, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben. Diese Stereotype zeigen sich in einem herablassenden Blick auf Menschen in Afrika, auf „arme Menschen, denen wir irgendwie helfen müssen.“[vi]

Es ließen sich noch eine Vielzahl weiterer Dimensionen und Kontinuitäten kolonialer Strukturen benennen. Da diese neuen Formen der Ungleichheit unsere Gesellschaft bis heute fundamental prägen – sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen Süden – ist es wichtig, sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Wieso Kolonialgeschichte vor Ort?

Die Kolonialgeschichte spielte in der deutschen Erinnerungskultur lange keine große Rolle.[vii] In den letzten Jahren gewann sie allerdings zunehmend an Aufmerksamkeit.

In vielen Städten sind Initiativen entstanden, die sich mit der Kolonialgeschichte vor Ort auseinandersetzen. Denn die Spuren des Kolonialismus sind hier noch immer sichtbar, ohne hinterfragt zu werden: Sie finden sich in Straßennamen, Denkmälern oder Institutionen. Oftmals sind Spuren allerdings auch unsichtbar gemacht worden. Das liegt teilweise daran, dass sie zerstört wurden, teilweise wurde aber auch der koloniale Kontext „vergessen, ignoriert oder […] überlagert“.[viii]

Die Spuren bieten einen guten Ansatzpunkt für notwendige gesellschaftliche Debatten zum Thema Kolonialismus. Zumeist sind sie kolonialverherrlichend und ehren Kolonisatoren, die an der gewaltsamen Unterdrückung der Kolonialbevölkerung teilnahmen. Auch das oftmalige Vergessen und Ignorieren dieser Spuren ist bezeichnend und Teil des bis heute dominanten gesellschaftlichen Umgangs mit dem Kolonialismus. Dieser ist durch eine „koloniale Aphasie“ geprägt, d.h. durch eine nicht-Thematisierung, ein bewusstes Verdrängen und ein Verharmlosen der nationalen und regionalen Kolonialgeschichte.

Die Kolonialzeit wird bis heute in der öffentlichen Debatte, in Medien oder im Schulunterricht wenig behandelt.[ix] Aufgrund dieser nicht-Thematisierung ist es daher das Ziel der Stadt-Initiative notwendige Debatten über Kolonialismus sowie koloniale Kontinuitäten anzustoßen. Dies geschieht durch das Kontextualisieren, Erklären, Umgestalten, Wiedersichtbarmachen und Hinterfragen von kolonialen Spuren im städtischen Raum

Was hat Göttingen damit zu tun?

Auch in Göttingen finden sich in vielen verschiedenen Kontexten koloniale Spuren. Der Kolonialismus prägte das Leben der Menschen im Alltag. Dies zeigt sich bspw. bei Cron & Lanz, welches 1876 gegründet wurde und seit 1912 in der Innenstadt ein Geschäft hat. Der dort verkaufte Kaffee, Rohrzucker und Tee wurden unter kolonialen Bedingungen produziert. Außerdem gab es in Göttingen im Jahr 1900 50 sogenannte Kolonialwarenläden, die Produkte aus den Kolonien verkauften. Oft wurden diese Produkte mit rassistischer Werbung beworben, beispielsweise zeigten sie „Schwarze Menschen dienend und kindlich“.[x]

Die Universität

Viele weitere Spuren finden sich in Göttingen im Zusammenhang mit der Universität. Nach der Kolonialhistorikerin Rebekka Habermas spielten Universitäten „in der europäischen Kolonialgeschichte eine wichtige Rolle“. Durch die Forschungen „in und über die Kolonien entstanden neue Disziplinen und Teilgebiete“ wie z.B. „die Ethnologie, die Tropenmedizin oder die Orientalistik“. Außerdem betont sie, dass „der Wissenstransfer von den Kolonien in die Metropole“ dazu diente, „die Kolonien besser wirtschaftlich auszubeuten und für die EuropäerInnen beherrschbarer zu machen“.[xi] Bis heute profitiere die europäische Wissenschaft von diesem „kolonialen Erbe“.

Auch die Uni Göttingen ist in diesem kolonialen Kontext zu verorten. In Göttingen ist die Geschichte vieler Disziplinen eng mit dem Kolonialismus verflochten, wie z.B. in der Botanik, Forstwissenschaften, Geographie, Medizin, Meteorologie, Orientalistik oder Ethnologie.[xii] Auch die Humananthropologie ist eng mit dem Kolonialismus verwoben.

Human Remains – Sammlungen menschlicher Überreste

Menschliche Überreste von Individuen aus den Kolonien befinden sich bis heute in den Sammlungen der Universität. Nach zahlreichen Rückgabeforderungen gab es in den letzten Jahren einige Restitutionen. Der Großteil menschlichen Überreste befindet sich allerdings nach wie vor in den Sammlungen.

Menschliche Überreste wurden in der Kolonialzeit unter ungleichen, gewaltsamen Verhältnissen nach Deutschland gebracht und hier zu anthropologischen Forschungs- und Lehrzwecken. Sie sollten als Beweis für rassistische Hierarchien zwischen Menschen dienen. Besonders bekannt ist die von Johann Friedrich Blumenbach in diesem Kontext entwickelte Kategorie „kaukasisch“. Blumenbach sammelte viele menschliche Überreste auch aus kolonialen Kontexten. Er forschte an ihnen, erstellte Klassifizierungen und unterzog die Schädel einer Bewertung.

„Denn in seiner Ordnung der verschiedenen Menschengruppen wurde der Schädel einer Georgierin zentral und damit am wichtigsten Punkt seiner Ordnung platziert. Ihm teilte er die Kategorie kaukasisch zu. Gemeint sind damit weiße Menschen aus Europa und Zentralasien. Bis heute wird kaukasisch vor allem in den USA noch als Synonym für weiße Menschen verwendet und zuweilen schwingt dem Begriff in manchen (rechten) Kreisen dabei eben auch eine Höherwertigkeit mit.“[xiii]

Georg-August

Die Verbindungen zwischen der Universität und dem Kolonialismus sind nicht nur in Forschung und Lehre zu finden. Sie reichen bis an die Anfänge und Gründung der Universität zurück. Die Universität wurde 1737 vom britischen König Georg II. gegründet, der bis heute als Namensgeber fungiert.

Er regierte Großbritannien in Personalunion mit Hannover. Als Georg II. seine Regentschaft antrat, übernahm Großbritannien die führende Rolle im atlantischen Sklavenhandel. Er war selbst aktiv an dem Sklavengeschäft beteiligt. Es ist unklar, inwieweit genau er involviert war; dafür benötigt es noch tiefergehende Forschung. Sicher ist nur, dass er Gouverneur der South Sea Company war, diese war v.a. im Sklavenhandel tätig. In den kolonialen USA unterzeichnete er Statuten von Carolina, in denen die Sklaverei fest verankert war und änderte die Regierungsform von Georgia, um die Sklaverei zu erleichtern. Er übernahm eine führende Rolle in der Royal Africa Company, die sich am Sklavenhandel beteiligte. In der Forschung heißt es, dass:

“During his reign the British share of the slave trade was rising to 50,000 human beings per year […]. The early fortunes of Manchester were built on the slavepacked bales of slave-picked American cotton. Several of the monarch’s intimate associates, such as Charles Hayes, CEO of the ACM, or Viscount Deerhurst circulated in slavery-related commercial circles. Everything points to the likelihood that the monarch, if not a vocal advocate or instigator, was a complicit patron and unprotesting beneficiary. What George Augustus thought about this human trafficking was not recorded.”[xiv]

Auf der Internetseite des Museum of British Colonialism heißt es:

„George II followed his father in his preoccupation with Hannover and his involvement in the slave trade. Like him, George II served as a Governor of the SSC and was also invested heavily in the enterprise. In the nearly 30 years that the SSC held the monopoly on the slave trade with Spain’s Empire, the SSC transported 41,923 African captives on its ships between 1714 and 1740. More than 7,000 people are estimated to have died on these voyages.”[xv]

Die ersten Forschungsbefunde deuten darauf hin, dass es eine direkte Verbindung zwischen Georg II. und dem britischen Sklavenhandel bestand.

Das „Wahrzeichen“ der Stadt Göttingen, der Kern der Stadt wurde nicht nur von einer Person gegründet, die sich aktiv an der Sklaverei in den Kolonien beteiligte, sondern ist bis heute nach dieser benannt.

Neben der Universität gibt es allerdings noch eine Vielzahl weiterer Spuren in Göttingen.[xvi] Sie deuten darauf hin, wie eng die Verbindungen zwischen Göttingen und dem Kolonialismus waren und dass Kontinuitätslinien bis heute fortbestehen.

Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesem Thema ist überfällig, wird aber bis heute oft blockiert. Eindrücklich zeigt sich dies am Kriegsdenkmal zu Ehren verstorbener deutscher Soldaten im Genozid gegen die Herero und Nama (1904-1908). Es befindet sich an der Ecke Geismar Landstraße/Friedländer Weg und wurde 1910 von Mitgliedern des 2. Kurhessischen Infanterie Regiments Nr. 82 in Auftrag gegeben. Trotz jahrzehntelanger Proteste weigert sich die Stadt, sich kritisch mit dem Denkmal „auseinanderzusetzen, es umzudeuten oder abzureißen“.[xvii] Wege zur kolonialkritischen Stadt zu finden, hieße aber genau solche Prozesse anzustoßen und umzusetzen. Es braucht eine ernsthafte und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe vor Ort!

Das Stadtlabor versteht sich als Kooperationsprojekt zwischen Wissenschaft, Kulturinstitutionen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und bietet einen Raum, um die verschiedenen Perspektiven aus dem Globalen Süden, Osten und Norden zu versammeln, bereits bestehendes und entstehendes Wissen zu vernetzen und Gedenken zu gestalten. Neben der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte vor Ort, ist es auch Ziel, anti-kolonialen Widerstand und koloniale Kontinuitäten bis in die Gegenwart sichtbarer zu machen. Alle Göttinger Bewohner*innen sind eingeladen, sich einzubringen und zu beteiligen.[xviii]

Hier findest du alle in den Fußnoten benannten Quellen

[i] Vgl. Sebastian Conrad: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte.

[ii] Zur Einführung, vgl. Sebastian Conrad: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte.

[iii] Vgl. Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter: 1875 – 1914, S.85.

[iv] Vgl. Andreas Eckert: Spätkoloniale Herrschaft, Dekolonisation und internationale Ordnung, S.19. Vgl. Andreas Eckert: Freihandel als weltpolitisches Instrument. Vgl. Sebastian Conrad: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte.

[v] Vgl. Charlotte Prauß: Vorstudie: Koloniale Vergangenheit in Göttingen?

[vi] Vgl. Rainer Grieß: Den kolonialen Blick überwinden.

[vii] Vgl. Sebastian Conrad: Rückkehr des Verdrängten?

[viii] Marianne Bechhaus-Gerst: Koloniale Spuren im städtischen Raum.

[ix] Nach Ende der deutschen Kolonialherrschaft 1918 prägte bis in die NS-Zeit ein kolonialrevisionistischer und verklärend-romantisierender Blick die koloniale Erinnerungskultur. Nach 1945 spielte der Kolonialismus in der Erinnerungskultur keine große Rolle mehr, vgl. Sebastian Conrad: Rückkehr des Verdrängten? Zum Begriff der Aphasie, vgl. Ann Laura Stoler, Duress. Imperial Durabilities in Our Times, London 2016, insbes. S. 122–172 und Fußnote bei Charlotte Prauß: Vorstudie, S.32.

[x] https://goettingen-postkolonial.de/stadtrundgang/

[xi] Rebekka Habermas: Universität und Kolonialismus – Das Beispiel Göttingen, in: https://goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php

[xii] https://goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/disziplinen

[xiii] https://goettingen-postkolonial.de/stadtrundgang/blumenbach/

[xiv]  Davies, Norman: George II: not just a British monarch.

[xv] ‘Crowning the Coloniser’: The House of Hannover, 1707-1837, https://museumofbritishcolonialism.org/2023-4-22-monarchy-and-empire-the-house-of-hannover-1707-1837/

[xvi] Über diese wird in einem postkolonialen Stadtrundgang informiert:  https://goettingen-postkolonial.de/stadtrundgang/

[xvii] https://goettingen-postkolonial.de/sudwest-afrika-denkmal/

[xviii]  https://www.stadtlabor.uni-goettingen.de/team-mission/


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